Der Fremde
Solche tiefschwarzen Nächte gab es nur in der Karibik, auch wenn der Himmel mit Sternen übersät war und die Milchstraße sich aus Mitleid mit den Menschen zu dieser kümmerlichen Erde beugen und sie umarmen wollte. Lilly tauchte in den Swimmingpool und ließ sich mit lautlosen Bewegungen treiben. Alle anderen Hotelgäste waren schon zu Bett gegangen.
Das warme Wasser umschmeichelte sie und war wie eine zweite zärtliche Haut. Lilly legte sich auf den Rücken und blickte zu den unzähligen glitzernden Punkten, als eine Sternschnuppe herabschwebte. Sie musste sich schnell etwas wünschen. Ihr fiel nichts ein. Es war wunderschön hier. Vielleicht wenn Frank ein wenig zärtlicher wäre, gerade im Urlaub. In ihren Ehealltag hatte sich die Gewohnheit eingeschlichen und nistete dort wie ein unliebsamer Besucher. So hatte Lilly eine Menge Hoffnungen in diese Ferien gesetzt, die sich bis jetzt nicht erfüllt hatten. Natürlich war ihr Mann höflich, zuvorkommend, wie immer. Aber der Kick war im Laufe der Zeit verloren gegangen. Eine Träne schlich sich in Lillys Augen, und diese Träne schwemmte sie im Gleichklang ihrer ruhigen Bewegungen im Wasser zurück an den Tag ihrer Bekanntschaft …
„Ich möchte Sie besitzen und lieben dürfen.“
Lilly war in einer endlosen Schlange im Supermarkt gestanden, müde und gereizt nach einem langen und anstrengenden Tag im Büro. Empört hatte sie sich umgesehen. Und da war Frank gewesen, jung, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Sie hatte ihn nur angestarrt. Für eine Reaktion fehlten ihr die Worte.
„Ich habe keine Blumen. Aber vielleicht mögen Sie eine süße Zärtlichkeit.“ Er entnahm seinem Wagen eine Packung Pralinen und reichte sie ihr. Er redete auf sie ein mit ungeheuer betörenden Worten und streichelte sie mit unwahrscheinlich aufreizenden Blicken, die auch ihre Figur nicht ausließen.
Als beide an der Kasse vorbei waren, war Lilly so verwirrt, dass sie einwilligte, mit diesem unverschämten, aber gut aussehenden Fremden noch einen Kaffee zu trinken.
Sie verließen das Café erst, als ein mürrischer Kellner anfing, die Stühle auf die Tische zu stellen, und verabredeten sich für den nächsten Tag. Als Lilly im Bett lag und über ihre Bekanntschaft nachdachte, bekam sie einen Lachkrampf, der erfrischender war als jedes Bad. Ihr war eingefallen, dass sie die Pralinen, die Frank ihr schenken wollte, selbst bezahlt hatte, weil sie in ihrem Korb lagen. Und so hatten ihre Beziehung und später ihre Ehe angefangen. Frank war verrückt, stürmisch, einmalig und auch einmalig zärtlich und liebevoll gewesen. Er hatte sie in die Liebe und das prickelnde Spiel der Erotik eingeführt, anfangs behutsam, da er ihre Unerfahrenheit respektierte, später fordernder und drängender, als sich Lilly sicher wähnte und Gefallen fand an dem, was zwei Liebende miteinander tun können. Und dann war etwas geschehen, was sie sich nicht erklären konnte.
Ihre Umarmungen und Zärtlichkeiten wurden weniger, sie liebten sich immer seltener. Lilly sagte sich, dass das mit Franks Aufstieg in der Firma zusammenhing. Er wurde zum Geschäftsführer ernannt, dem jüngsten in der traditionsreichen Geschichte dieser alt eingesessenen Firma. Die Verantwortung für den Betrieb ließ nur noch wenig Raum für sein Privatleben, so entschuldigte Lilly sein Verhalten.
„Ich möchte gern ein Kind.“ Lilly hob ihr Glas und blickte fragend auf Frank, der an diesem Abend äußerst gut gelaunt war. Doch seine Reaktion erschreckte sie.
„Das halte ich derzeit für eine sehr schlechte Idee. Du weißt, wie ich um den Bestand der Firma kämpfen muss.“ Er hatte viele überzeugende Argumente gebracht, die jedoch in Lillys Herz tiefe Wunden schnitten. Das Thema hatte sie nie mehr erwähnt, aber Vorsorge getroffen, dass sie schwanger wurde. Ein Kind war ihr wie ein Rettungsanker erschienen. Nach einer Fehlgeburt mussten die Ärzte drei Tage um ihr Leben bangen. Und als sie dann wieder zu Hause war, unfähig, je wieder schwanger zu werden, brach auch ein Teil ihres Lebens mit Frank zusammen, zumindest was ihre Gefühle für ihn betraf. Sie mochte ihn, achtete ihn, und das Zusammensein mit ihm war angenehm und wurde immer luxuriöser. Aber in ihrem Inneren waren eine Leere und Stille, die sie jetzt im Urlaub wieder auffüllen wollte.
Doch ihre Hoffnung hatte sich bis jetzt nicht erfüllt, und ihnen blieb nur noch eine Woche. Sie seufzte und schwamm mit trägen Bewegungen auf dem Rücken, als sie ein leichtes Plätschern vom Beckenrand vernahm. Sie erschrak und verharrte mit leichten Paddelbewegungen. Ein anderer Gast, der um diese Zeit noch ein Bad nehmen wollte? Eine starke Windböe ließ die Palmen rauschen, es klang beinahe wie das Lied der Sirenen, und Lilly hörte nichts mehr. Sie glaubte, sich das Geräusch eingebildet zu haben, als Hände sie umfassten und ein Körper, ein männlicher, unter sie glitt.
„Beautiful Lady“, flüsterte eine Stimme auf Englisch mit einem fremden, weichen Akzent. „Dushi“. Das war ein liebevolles Kosewort in der Landessprache. „Ich habe Sie nachts schwimmen sehen. Bitte verzeihen Sie.“
Lilly hatte bei der ersten Berührung aufschreien wollen, aber nach dem Moment der Lähmung war sie von den Worten des Fremden, wie er sie hielt, in eine ungeheuer friedliche Wolke der Entspannung getaucht. Sie blieb still und ruhig. Der Mann machte eine Körperdrehung, lag auf dem Rücken und zog sie auf seine Brust. Im diffusen Licht sah Lilly ein dunkles Gesicht, Zähne, die einen hellen Fleck bildeten, und Augen, deren Iris schimmerte, als tanzten Irrlichter durch die Nacht. Und noch etwas: Sie spürte, atmete die Haut des anderen, nahm seine Begierde wahr, und das erfüllte sie mit einem köstlichen Gefühl des Losgelöstseins, einer ungeahnten Freiheit, in das sich Sehnsucht und Lust schlichen. Der Fremde schwieg, aber seine Hände, das Auf und Ab seines Körpers, seine Beine sprachen mehr, als alle Worte es vermocht hätten. Er tat nichts. Er war nur da. Seine Hände umhüllten sie mit einem warmen und trostreichen Mantel der Zärtlichkeit, was in Lilly eine beinahe unmoralische Begierde weckte. Gestern hatte Frank sie genommen, routiniert, gleichgültig, und sie hatte ihm den Höhepunkt vorgespielt, damit er von ihr abließ. Und hier … An einem anderen Ort hätte sie vor Verlangen geschrien.
„Schlaf gut, dushi.“ Der Hauch eines Flüstern, dem ein Plätschern folgte, und Lilly fühlte sich allein, nackt und im Stich gelassen. Als sie das Zimmer betrat, schlief Frank. Sein Mund stand leicht offen, und er sah wie ein trauriges Kind aus, das sein Spielzeug verloren hatte. Aber vielleicht war es nur ihr schlechtes Gewissen. Sie kuschelte sich unter ihr Leintuch und dachte über das Erlebnis im Pool nach. Wer war der Mann, würde sie ihn wiedersehen? Passierte dann das, was sie sich heute Abend gewünscht hatte? Sie fiel in einen unruhigen Schlummer, aus dem Frank sie weckte.
„Mäuschen“. So nannte er sie seit einiger Zeit. Er hätte auch „Pantoffel“ sagen können. „Ich muss zum Tauchkurs. Heute geht es zu den Korallenbänken, die tiefer als zehn Meter sind. Und anschließend werde ich zum ersten Mal auf `Diabolo´ reiten, nachdem ich erfolgreich diese lahmen Zossen für die anderen Touristen absolviert habe. – Wie verbringst du deinen Tag?“ Den letzten Satz brachte er nach einer gewissen Pause hervor. Er sah mehr denn je wie ein Kind aus, das seine desinteressierte Mutter von der Wichtigkeit der sportlichen Aktivitäten überzeugen wollte. Frank hatte nicht ganz Unrecht. Lilly bekam Panik, wenn ihr Kopf eintauchte und Wasser in die Ohren drang. Und Pferde waren für sie Geschöpfe, die unvermittelt und eigenwillig den Reiter an einsamen Gegenden abwarfen und wunde Schenkel verursachten.
„Mach dir nur keine Gedanken. Ich werde schwimmen, lesen und vielleicht ein wenig Golf spielen.“ Letzteres war schlicht gelogen. Der Lehrer, einiges an unbegabten Schülern oder Gästen gewöhnt, die dennoch höflich behandelt werden mussten, hatte ihr beim ersten Versuch mit einer erstaunlichen Diplomatie erklärt, dass sie für diesen Sport völlig ungeeignet war. Erleichtert hatte Lilly aufgegeben. Doch diese Notlüge half ihr bei Frank, der sie tagsüber genauso wie ihn selbst beschäftigt wähnte, noch dazu mit so „produktiven Gestaltungsmöglichkeiten im Urlaub“. Diesen Quatsch hatte er tatsächlich gesagt.
„Ciao, wir sehen uns dann heute Abend zum Caribean Dinner.“
Lilly vertilgte ein Riesenfrühstück und war sich sicher, dass sie heute wieder ein nächtliches Bad nehmen würde.
Das Essen war ausgezeichnet, aber Lilly verspürte keinen Hunger. Sie war zu aufgeregt. Und Frank schlief beim Nachtisch fast ein.
„Ich wäre beim ersten Tauchen fast ertrunken. Mit der Sauerstoffflasche stimmte was nicht. Das Ventil …“
Und dann erzählte er von seinen Bravourstücken beim Reiten auf diesem teuflischen Pferd. So, wie es klang, hatte er sämtliche nur möglichen Rodeoschwierigkeiten wie weiland John Wayne bezwungen.
„Mausi, mir tut jeder Knochen weh. Also ich muss dringend ins Bett. Morgen geht es auf zwanzig Meter Tiefe.“ Er legte sich hin. „Dein Tag war schön“, murmelte er, dann schlief er. Dieses Mal sah Frank nicht wie ein Kind aus, sondern wie ein alter, geplagter Mann, der noch dazu schnarchte.
Lilly blieb zitternd im Nachthemd stehen, bis sie sicher war, dass diesem Schnarchen ein Tiefschlaf folgen würde. Sie zog nur das Bikiniunterteil an und hüllte sich in einen leichten Seidenkimono. Nach ein paar Minuten schlich sie aus dem Zimmer und eilte zum Pool hinunter. Er lag da, schwarz und menschenleer.
Und wieder glitt sie in das dunkle Wasser, aber heute mit dem Gefühl angespannter Erwartung. Es war dieselbe Zeit wie gestern. War da ein Plätschern? Nein, das waren nur die blöden Palmen, die so trügerisch rauschten. Außerdem schien sich eine Horde störrischer Grillen verschworen zu haben, die Stille der Nacht durch ihr Zirpen zu stören. Lilly legte sich auf den Rücken und wartete. Sie wurde belohnt. Jetzt war das Plätschern unverkennbar. Hände legten sich auf sie, sie spürte den Körper, und diese Begegnung mit dem Fremden war anders als in der vergangenen Nacht: drängender und fordernder. Als ihr Bikinihöschen auf der Oberfläche schwamm, nahm sie es und legte es sich über ihren rechten Arm. Und was dann folgte, war himmlisch, teuflisch, verwerflich, lang ersehnt oder vielleicht nur ein Traum? Natürlich nicht. Lilly stand am Rand des Pools, als der Fremde verschwunden war, zog sich das Unterteil an und dachte an die schimmernden Zähne, seine weiche Haut, die blitzende Iris und vor allem an seinen Mund mit den zärtlichen, vollen Lippen. Sie hatten nicht miteinander gesprochen, nur ab und zu ein Murmeln oder ein unterdrücktes Keuchen der Lust und Begierde. Aber ihre Körper hatten sich in der Umarmung ihre eigenen Geschichten erzählt.
Vorsichtig glitt Lilly in das Bett. Frank schnarchte nicht. Er kehrte ihr den Rücken zu, der abweisend und kalt wirkte. Bevor ein tiefer Schlaf sie entführte, zählte Lilly die ihr verbleibenden Tage, es waren nur noch drei. In der nächsten Nacht kam ihr unbekannter Lover nicht.
Als Frank am Morgen neben ihr erwachte, kuschelte sie sich an seine Brust und liebkoste ihn. Er zuckte zurück, als habe sie ihm einen unsittlichen Antrag gemacht.
„Jetzt um diese Zeit? Wir haben doch erst vor … Außerdem muss ich mich beeilen. Die Tauchgruppe wartet nicht. Heute geht es zu einer fantastischen Korallenbank.“
Lilly gab ihm keine Antwort. Wer jemals das Gerücht aufgebracht hatte, Männer seien morgens besonders dazu aufgelegt, hatte sicherlich nicht Frank gekannt. In nervöser Unruhe verbrachte sie den Tag, meistens am Pool. Ein strammer Mitfünfziger in unglaublichen Bermudashorts machte ihr Avancen, die sie schroff zurückwies. Sie flüchtete in ihr Zimmer und erwartete den Abend. Obwohl sie immer und überall Ausschau gehalten hatte, konnte sie nirgends ein Gesicht oder eine Gestalt entdecken, die Ähnlichkeit mit ihrem nächtlichen Freund hatte. Wer und wo mochte er sein?
Frank schlief nach einem Dia- und Videoabend über das Abenteuer des Tauchens sofort ein, sodass Lilly unbemerkt flüchten konnte. Obwohl die Palmen raschelten und rauschten, wusste sie, dass sie nicht mehr allein war. Und wieder begann das verrückte Spiel. Das Wasser trug sie. Sie glitten ineinander, waren eins und lösten sich wieder bis zu einer letzten, stummen Vereinigung, die Lilly besonders intensiv empfand. Sie wusste ihr Gefühl nicht zu beschreiben, aber es war, als sei ein Kind zum ersten Mal auf einem Jahrmarkt mit all seinen betörenden Gerüchen und Verlockungen, die es alle auf einmal haben wollte und auch bekam.
Der letzte Abend brach an. Um neun Uhr ging das Flugzeug zurück, und die Hotelleitung hatte alle Reisenden zu einem Abschiedsumtrunk mit allen Angestellten eingeladen. Lilly fühlte sich eigentümlich leer, nicht unzufrieden oder frustriert. Gestern hatte sie zu dem Fremden „Good bye“ gesagt, und die Trennung war behutsam, liebevoll gewesen, ganz anders als in Nacht zuvor. Die Minuten – oder war es eine Stunde gewesen? – hatten sie in einen Rausch der Sinne gerissen. Sie lächelte, der Ausdruck war so kitschig, und vor kaum zehn Stunden hatte der Mann sie behandelt wie eine Prinzessin, auf die seine Küsse wie zarte Rosenblätter fielen und …
„Bist du endlich fertig?“ Frank sah Lilly missbilligend an, die vor dem Spiegel stand und ihr Make-up kontrollierte.
„Natürlich, Frank. Lass uns nach unten gehen.“ Lilly lachte, und dieses Lachen löste sie aus ihrer Erinnerung, befreite sie. Sie wusste, dieses Erlebnis würde sich nie aus ihrem Gedächtnis löschen lassen. Es war einmalig, und es würde ihr immer Kraft geben, wenn sie mit ihrem Alltag unzufrieden war.
In der Halle stand schon ihr Gepäck, und Kellner boten den Reisenden Sekt an. Der Manager hielt die übliche Bla-Bla-Rede, und auf seinen Wink („Auch das Personal, das sich bemüht hat, Ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, möchte sich bei Ihnen bedanken“) erschienen zwei Dutzend Männer und Frauen.
„Sieh mal, da sind mein Tauchlehrer und sein Bruder, der mir das Reiten beigebracht hatte.“ Frank knuffte Lilly in die Seite. Sie erstarrte. Das war ihr nächtlicher Liebhaber in doppelter Ausgabe. Es gab keinen Zweifel. Die Zwillinge standen da und lächelten verbindlich.
„Ist dir nicht gut?“ Frank stützte Lilly, deren Knie einsackten.
„Alles okay. Du weißt, ich habe Angst vorm Fliegen und Reisefieber. Wir sollten fahren.“
Der Flug dauerte zehn Stunden, eine Ewigkeit, da sich Lilly immer wieder von Frank beobachtet fühlte. Er konnte nichts wissen, oder doch? Und was wusste sie? Hatte sie nun mit dem einen, dem anderen oder mit beiden? Ihr Gesicht glühte, obwohl ihr Körper vor Kälte zitterte.
„Liebes, wir sind bald zu Hause. Ach, ich wollte dir noch sagen, du siehst wunderbar aus.“
„Wie bitte?“
„Wirklich. Und ich, ich entschuldige mich bei dir. Ich habe dich im Urlaub ein wenig beiseite geschoben, und natürlich auch vorher. Ich weiß das jetzt. Wenn du mir verzeihst, dann werde ich mich bessern und dich nicht mehr so vernachlässigen, sonst kommst du mir noch auf dumme Gedanken, und das wäre doch Blödsinn nach so langen Ehejahren.“ Er nahm sie in die Arme, und Lilly kuschelte sich an ihn. Am liebsten hätte sie geweint.
„Wann landen wir?“ fragte sie, und ihre Trauer verwandelte sich in Freude. Selbst wenn er etwas vermutete, er würde es niemals erfahren, aber es stellte vielleicht einen neuen Anfang dar.