Die Fremde hatte sich auf ihre Seite zurückgezogen. Sie trank ihren Saft aus und griff nach dem Buch. Die Frau hob die Hand an die Schläfe, als wolle sie … Joseph hielt den Atem an. Jetzt. Der Bus machte eine scharfe Bremsung. Man hörte den Fahrer laut fluchen, während ein silberfarbener BMW schon einige hundert Meter vor ihnen davonschoss.
Nur aus dem Augenwinkel nahm Joseph gerade noch so die Bewegung der fremden Frau wahr. Erneut wanderte ihre etwas knochige Hand nach oben, strich das schwarze Haar zurück und legte ihr rechtes Ohr frei.
Perfekt.
Joseph wäre am liebsten mit dem Sessel verschmolzen, um sich zurückzuhalten. Konnte die Natur wirklich etwas erschaffen, dass er sich, trotz aller Bemühungen, in seinen lebhaftesten Träumen nie hatte vorstellen können? Die obere Rundung ihrer Ohrmuschel zog einen überwältigend harmonischen Bogen, der in einem vollendeten Schwung zum Ohrläppchen mündete. Der Ohrknorpel stand nur ein klein wenig hervor und fügte sich stilsicher in das Gesamtkunstwerk ein. Und das Beste von allem: Keine Ohrringe, nicht einmal Löcher dafür! Doch da endete der schöne Traum auch schon. Die Fremde schüttelte kurz den Kopf und ihr Haar verbarg wieder alles Wesentliche.
Joseph wandte sich der Scheibe zu. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal … auf jeden Fall schon zu lange her. Und so wie hier sowieso noch nie. Stattdessen beobachtete er blöde Tropfen bei ihrer unglücklichen Romanze an der Scheibe eines Reisebusses. Mit einer irrwitzigen Fahrt hatte Nummer zwei es immerhin geschafft, Nummer eins fast zu erreichen. Nur noch ein Millimeter trennte die Beiden voneinander.
Was interessierten ihn eigentlich Regentropfen an der Scheibe? Josephs Phantasie lief auf Hochtouren. Er musste dieses Ohr berühren, und wenn es stundenlangen Small Talk über das Wetter kostete.
Auf der anderen Seite des Busses diskutierte ein älteres Ehepaar beleidigt über den Regen. Joseph schaute kurz hinüber. Dabei blieb sein Blick, ohne dass er es recht bemerkte, am Profil der Frau hängen, deren Haare noch immer eine stabile, scheinbar unüberwindbare Mauer bildeten. Wenn ihm doch der Zufall nur noch ein einziges Mal einen kleinen Blick schenken könnte.