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Lichtermeer

Holger schaffte es einfach nicht loszulassen. Selbst hier im Urlaub dachte er an die Firma. Fünf Wochen war sein Chef krank gewesen und er eingesprungen. Und die Verantwortung hatte ihn in diesen wenigen Wochen um Jahre altern lassen. Stets hatte er viel gelacht bei der Arbeit und bei allem Ehrgeiz ein gutes Verhältnis zu seinen Kollegen gehabt. Das alles hatten diese wenigen Wochen als Chef zunichte gemacht. Und auch als sein Chef zurück kam und die Last von ihm genommen wurde, wollte sich die alte Freude am Beruf nicht wieder einstellen. Zumal er jetzt viel besser verstand, wie nah am Abgrund die Firma stand. Monat für Monat war es ein wackliger Balance-Akt und Fallen war keine Option. Zwanzig Festangestellte, mehr als die Hälfte mit Familie, über denen stets die Axt kreiste, ohne dass sie es ahnten. Seitdem beschäftigte er sich sehr mit der Möglichkeit beruflicher Neuorientierung. Der Urlaub jedoch sollte seinen Kopf frei pusten, diese Gedanken vertreiben. Aber das alles ließ ihn nicht los. Trotz all dieser phantastischen Orte, die er hier besuchte, trotz der Lebensfreude der Menschen hier, er konnte weder seine Arbeit noch die Besorgnis vergessen. Mehrere Ideen hatte er per E-Mail an seinen Chef geschickt, obwohl er sich vor dem Urlaub geschworen hatte, es nicht zu tun. Und die Schlaflosigkeit hatte er auch nicht abschütteln können. Doch immerhin war er auf die Idee gekommen, das Hotelzimmer zu verlassen und der Abendluft, dem Sternenhimmel und dem Hotelgarten die Chance zu geben, ihn abzulenken. Nacht für Nacht gelang es ihm, zumindest eine Stunde völlig zu entspannen. Der Garten war so riesig, man konnte immer noch eine neue kleine Ecke erkunden und man fand etwas, was in dieser Stadt wahrlich eine Seltenheit war: Einsamkeit. Keine Menschen um ihn herum. Nur warme Luft und ein weit entferntes Rauschen. Um so tiefer man in den Garten eindrang, um so leiser wurde das Rauschen der Großstadt. Er genoss es.

Doch es war stets eine Stunde gewesen. Jede Nacht. Danach drang wieder alles in sein Bewusstsein und zerrte an ihm. Und plötzlich saß er in einer stillen Ecke und hatte doch wieder die Frauenstimme im Ohr, die ihn über Start-Up Möglichkeiten in den USA berichtete. Er kotzte sich selber an. Unfähig abzuschalten, selbst im Paradies. Kaum wahrnehmbar ob des englischen Geplappers auf seinen Ohren knarzte es im Pavillon. Irgendjemand hatte sich ihm gegenüber hingesetzt, doch seine Augen waren lange geschlossen gewesen. Nicht entspannt, sondern konzentriert auf das Hörbuch. Außerdem war es sehr dunkel. Keine Chance zu sehen, wer sich da gesetzt hatte. Doch er ahnte schlimmes. Die letzten Nächte waren immer diese schrecklichen englischen Jungburschen durch den Garten gezogen, hatten gesoffen und rumgeplärrt. Der Pavillon war sein zweit liebster Platz im Garten – trotz der geschmacklosen blauen Farbe – und er war vorbereitet gekommen. Er zückte seine Streichhölzer und entzündete das Windlicht in der Mitte. „Do you mind?“ fragte er, in Erwartung die jungen Briten vor sich zu finden. Aber nein. Sie wären auch zu leise gewesen. Das hätte nicht gepasst. Eine der jungen deutschen Mädels hatte Platz genommen. Um genau zu sein: die Hübscheste der dreien. Genaustens hatte er sie beobachtet am Frühstückstisch und kaum die Augen von ihr abwenden können. Und dabei stand er für gewöhnlich nicht auf junge Dinger, aber die hier hatte das gewisse Etwas. Sie war Tag für Tag in Jeans unterwegs und präsentierte darin einen absoluten Knackarsch. Sie war schlank, aber nicht dürr. Und hatte vor allem so einen verträumten Blick, der ihn faszinierte. Selbst beim Rumalbern mit ihren Freundinnen schien sie ab und an ganz in die Ferne zu entschwinden und in ihrem Kopf wunderbare Orte zu bereisen. Er wünschte sich, so etwas auch zu können. Seine Anwesenheit schien sie zu überrumpeln. Sie hatte ihn wohl zuerst auch nicht wahrgenommen. Nichts hätte er lieber gemacht, als seinen Blick wandern zu lassen, aber er wollte die junge Frau nicht verschrecken. Er schloss seine Augen, verschränkte die Arme und versuchte seine Konzentration wiederzufinden. „question of … there´s … money … business … opportunity …“ Nur noch wenige Worte der englischen Vorleserin schafften es in sein Bewusstsein. Holger war abgelenkt. Endlich, dachte er. Die Kleine hatte etwas geschafft, was selbst der Besuch am Strand gestern nicht hatte erreichen können: Zerstreuung. Vorsichtig öffnete er seine Augen ein wenig. Der Wunsch, dass nicht bald ihre geschwätzigen Freundinnen folgen würden, machte sich in ihm breit, denn sie war wieder so wunderbar verträumt. Er schien nach nur wenigen Minuten wieder völlig aus ihrem Bewusstsein verschwunden. Sie zwirbelte sich eine Haarsträhne zurecht und mit der flachen Hand streichelte sie sich über den Oberschenkel. Holger schluckte und rückte etwas nach vorne. Der Kerzenschein ließ sie wunderbar liebreizend wirken. Sein Blick erkundete alles … und sie schien das wahrzunehmen. Vielleicht wollte sie ja genau das von ihm?

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