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Das Geheimnis von Andre

“Das öffnest du erst, wenn du auf deinem Zimmer bist, hörst du?”, wies er mich an und verlieh dem Gesagten den passenden Nachdruck, indem er anfügte: “Keine Sekunde eher!” Seine zärtlichen Finger gingen dazu über, mir die Haare aus dem Gesicht zu streifen. Er setzte einen kleinen Schritt zurück, der unsere Leiber zwar voneinander trennte, doch die Berührung weiter zuließ. Als wolle er mein Gesicht in seinem Gedächtnis fotografisch festhalten, musterte er mich ein letztes Mal mit dieser charakteristischen Eindringlichkeit, die mir unsichtbare Sandkörner den Rücken hinab rieseln ließ. Schließlich fasste er mir in den Nacken, zog meinen Kopf zu ihm heran und küsste meine Stirn. “Du brauchst keinen Namen, denn für mich bist du bereits mein Liebes”, flüsterte er in meine Haare. “Und jetzt geh!”

Konsterniert durch die plötzliche Schroffheit blickte ich bestürzt auf. André hatte mich losgelassen, allerdings wollten sich meine Füße einfach nicht in Bewegung setzen. Ich beobachtete in seinem abgewandten Gesicht, wie er allmählich die Haltung verlor und das so faszinierende Jadegrün in einem See aus Tränenflüssigkeit ertrank. “Bitte”, flehte er mit gebrochener Stimme, “geh!” Ein letzter Blick verriet mir, wie überaus ernst ihm diese Forderung war, während ich mich zwingen musste, meine Hand nicht nach der zerbrechlichen Gestalt vor mir auszustrecken, um sie zu trösten. Doch es gab nichts, was ich hätte tun können — im Gegenteil, es hätte alles nur noch viel schlimmer gemacht. So rückte ich ohne ein Wort des Abschieds von ihm ab und wandelte wie eine leere Hülle über den Gang. Ein fast nicht wahrnehmbares: “Pass auf dich auf, ma chére…” voller Sanftmut, ließ mich für einen kurzen Augenblick schmerzlich aufhorchen. Ohne mich umzudrehen, hielt ich inne. Nachdem jedoch keine weitere Reaktion folgte, führte mich mein Weg schweren Herzens weiter Richtung Normalität. Aber würde es je eine Normalität nach dieser Nacht für mich geben?

Die U-Bahn war voller als erwartet um diese Uhrzeit, und einige hatten sich in die Waggons gedrängt, als gäbe es dort etwas umsonst. Zum Glück hatten wir trotzdem nach kurzer Suche zwei freie Plätze ausfindig machen können, wo ich nun den in Papier eingepackten Gegenstand aus meiner Hosentasche nachdenklich zwischen den Händen drehte, während meine Begleiterin einmal mehr anfing, ihren verbalen Wasserfall über mich zu auszuschütten. Ich hatte ihr nicht viel erzählen können, aus Angst, in Tränen auszubrechen, wenn ich über André sprach. Um nun einer weiteren Diskussion oder Fragen aus dem Weg zu gehen, fixierte ich die Stelle zwischen ihren Augenbrauen und nickte von Zeit zu Zeit verständig, ohne jedoch auch nur einen blassen Schimmer von dem zu haben, was mir berichtet wurde. Es machte ohnehin keinen Unterschied, denn sie gestikulierte wild mit ihren Händen und war in einen Dialog verfallen, den sie vor allem mit sich selbst führte. Meine Gedanken schweiften ab, während ich meine Finger so behutsam über die Erhebung des Papiers gleiten ließ, als wolle ich sie streicheln. Was für eine eigenartige Begegnung ich nur gemacht hatte! André war so anders als die Menschen, die ich kannte, und hatte mir eine seltsam anmutende Art des Liebens gezeigt, an die ich vorher nicht einmal gedacht hatte.

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