Die ganze Woche über hatte ich mich auf diesen Abend gefreut, denn endlich hatte ich meine Kai-jin wieder für ein paar Stunden für mich. Zumindest so lange bis auch mein Vater vom Stadtfest heimkehren würde. Aber wir beide waren so geschafft von dem anstrengenden Arbeitstag, dass wir froh waren als wir endlich die Fahrräder in der Scheune abstellen konnten. Wir waren einfach viel zu geschafft um uns noch irgendwelchem Verlangen hinzugeben. Nein, wir verspürten überhaupt keines, so gerädert waren wir.
Der nächste Tag wurde tatsächlich noch hektischer und anstrengender als tags zuvor. Schon am frühen Nachmittag musste ich den Grill auf höchster Stufe feuern, um dem Andrang noch gerecht zu werden, und Kai-jin schaffte es kaum die Tische sauber zu halten. Dauernd wurde sie von Italienern aufgehalten, die natürlich an ihrem äußeren Erscheinungsbild gefallen fanden, und die immer wieder einen Vorwand suchten, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Nur Kai-jin verstand viel zu wenig Italienisch, um auf solche Gespräche einzugehen. Der späte Nachmittag war bereits angebrochen, als auch mein Vater sich mit seiner „Kollegin“ blicken ließ. Ich schäumte innerlich vor Wut als ich die beiden sah. Alleine dieser Blick, den sie ihm zuwarf. So schmachtend, das war doch nicht mehr kollegial, und der Blick meines Vaters, wenn er mit ihr sprach. So sah er ja nicht mal unsere Mutter an.
Der Nachmittag wurde immer später und der Abend nahte herbei und mein Vater hatte es sich mit seiner Kollegin an einem der Bistrotische gemütlich gemacht. Umso länger ich das Geturtel der Beiden mit ansehen musste, umso wütender wurde ich. Ich hasste diese Frau; ich hasste sie für die Art, wie sie meinen Vater ansah, ich hasste ihr Lächeln, ich hasste alles an ihr!
Aber mindestens genauso viel Hass empfand ich für meinen Vater. Ich empfand sein Verhalten einfach unverantwortlich und unmoralisch. Nie im Leben hätte ich damals über mein eigenes moralisches Handeln nachgedacht. Nie wäre mir zu diesem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, mein Verhalten mal kritisch zu hinterfragen.
2 replies on “Georg Genders Schwester.”
Eine der besten Geschichten die ich je gelesen habe. Ich würde mich freuen wenn es bald weiter geht.^•^
Einer der besten Geschichten die ich je gelesen habe. Ich würde mich freuen wenn es bald weiter geht.^•^